Torsten Groß
Gedächtnismanipulation: Forscher wollen Erinnerungen auslöschen
In Kanada forschen Wissenschaftler an Methoden, um das Gedächtnis von Menschen zu manipulieren. Erklärtes Ziel ist es, stark belastende Erinnerungen zum Beispiel an traumatische Erlebnisse oder an eine gescheiterte Beziehung zu unterdrücken und damit für die betroffenen Patienten erträglicher zu machen. Doch was wäre mit einem erfolgreichen Forschungsergebnis noch alles möglich?
Mit Hilfe von Propranolol, einem Arzneistoff aus der Substanzgruppe der Betablocker, der eigentlich zur Behandlung von Bluthochdruck und bei Herzrhythmusstörungen eingesetzt wird, werden negative Erinnerungen aktiviert, um sie durch therapeutisches Einwirken sukzessive abzuschwächen. Die Ergebnisse einer kürzlich abgeschlossenen Studie auf diesem Gebiet sind vielversprechend. Nach Angaben von Projektleiter Dr. Alain Brunet, Professor für Psychiatrie an der McGill Universität Montreal, konnten die Probanden kaum glauben, wie viel man mit dieser Methode in so kurzer Zeit erreichen konnte. Ein Studienteilnehmer, der von seiner Partnerin verlassen worden war und stark unter dieser Trennung litt, formulierte es so: »Ich habe das Gefühl, dass ich die Seite umblättern konnte. Ich bin nicht länger von dieser Person oder meiner Beziehung zu ihr besessen.«
Dr. Alain Brunet betont, dass es nicht darum gehe, schmerzvolle Erinnerungen gänzlich auszulöschen. Die Vorstellung, man könne eines Tages diejenigen Gehirnzellen isolieren und deaktivieren, in der ein bestimmtes Erlebnis eines Menschen gespeichert ist, findet er vielmehr beängstigend. Schließlich seien Erinnerungen Teil der Persönlichkeit eines Individuums, die seine Identität formen und ihn authentisch machten.
Doch nicht wenige seiner Kollegen denken längst weiter. »Nehmen wir an, Sie hätten zwei Möglichkeiten zur Auswahl – eine Erinnerung abschwächen oder sie völlig aus ihrem Gedächtnis entfernen, welche würden Sie wählen? Wenn Sie die Erinnerung an den schrecklichsten Tag ihres Lebens löschen könnten, würden Sie es tun?«
»Und wie sieht es mit der Erinnerung an eine Person aus, die Ihnen Schmerz zugefügt hat?«, fragen die Neurowissenschaftler Elizabeth Phelps und Stefan Hofmann abschließend in einem Beitrag.
Was bis vor kurzem noch pure Science Fiction war, könnte infolge des rasanten wissenschaftlichen Fortschritts schon bald Realität werden. Eines Tages, so die Vision, wird es eine Pille geben, die gezielt Synapsen im Gehirn blockiert, um eine bestimmte negative Erinnerung abzuschwächen oder ganz zu löschen. Eine Pille, die Stunden, Monate oder gar Jahre nach dem ursächlichen Ereignis eingenommen werden kann. Eine verheißungsvolle Perspektive vor allem für Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen, die allerdings viele Fragen aufwirft und auch erhebliche Risiken birgt. Angenommen, der Besucher einer Party benimmt sich daneben. Ist es dann tatsächlich sinnvoll, dass er die Erinnerung an diese peinliche Situation durch die Einnahme einer Tablette einfach ausblendet? Wahrscheinlich nicht, denn die Möglichkeit, früheres Verhalten kritisch zu reflektieren, ist die Voraussetzung, um einmal gemachte Fehler künftig zu vermeiden. Das hilft nicht nur dem Betroffenen selbst, sondern ist auch für sein Umfeld von Vorteil.
Das Gedächtnis ist also ein äußerst wichtiges Instrument der Verhaltenssteuerung, eine Funktion, die verloren ginge, würde man negative Erfahrungen einfach aus dem Gehirn löschen. Mehr noch: Die Bereitschaft des Einzelnen, moralische Verantwortung zu übernehmen, basiert auf seiner Lebensgeschichte und damit seinen Erinnerungen, wie der Bioethiker Dr. Peter DePergola in einem Artikel für das Journal of Cognition and Neuroethics ausführt. Der Einsatz von Medikamenten oder anderen Therapien mit dem Ziel Erinnerungen abzutöten oder auszuschalten, erschwert es einem Menschen, das Gute zu erkennen und danach zu handeln, argumentiert DePergola.
Außerdem stellt sich die Frage, wie es gelingen soll, schlechte Erinnerungen vergessen zu machen, ohne solche an glückliche und positive Erlebnisse zu beeinträchtigen?!
Die Neurowissenschaft ist mit der Herausforderung konfrontiert, dass sich das menschliche Gedächtnis nicht an einem bestimmten Ort befindet, sondern auf verschiedene Gehirnregionen verteilt ist. Die Forscher können also nicht einfach in den Kopf eines Menschen eindringen und dort einen Geisteszustand immerwährender Glückseligkeit herstellen. Noch nicht, wie man hinzufügen muss. Denn den Experten gelingt es immer besser, sich ein Bild von der komplexen physikalischen Struktur des Cerebrums zu machen. Es dürfte deshalb nur eine Frage der Zeit sein, bis man in der Lage sein wird, diejenigen Gehirnzellen zu identifizieren und schließlich gezielt zu manipulieren, die bestimmte Erinnerungen speichern.
Sollte es der Wissenschaft tatsächlich gelingen, das Gedächtnis von Menschen durch die Verabreichung von Präparaten zu bereinigen, könnten skrupellose Politiker versucht sein, sich dieses Wissen zunutze zu machen. Wie wäre es zum Beispiel, wenn man die schrecklichen Erinnerungen von Soldaten an frühere Kampfeinsätze löschen würde, damit sie in künftigen Kriegen tapferer und damit schlagkräftiger kämpften? Oder wenn Diktatoren Oppositionellen, die in der Haft gefoltert wurden, die Erinnerung an ihr Martyrium nehmen, um dadurch späterer Strafverfolgung oder sogar Racheakten zu entgehen? Oder das kollektive Gedächtnis ganzer Völker manipuliert wird, um mit Hilfe einer auf diese Weise geschönten Wahrnehmung der Vergangenheit die Macht der Herrschenden dauerhaft zu sichern?
Noch sind solche Horrorszenarien Hirngespinste, was aber nicht zwangsläufig heißen muss, dass sie eines Tages nicht Realität werden. Kritische Zeitgenossen sollten deshalb die Entwicklung auf diesem Gebiet der Wissenschaft sehr genau im Auge zu behalten.
Donnerstag, 7.11.2019