Torsten Groß

China: Demographische Krise bedroht Aufstieg zur Weltmacht

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China wird in der Propaganda seiner kommunistischen Führung gerne als kommende Weltmacht präsentiert, die den globalen Führungsanspruch der Vereinigten Staaten von Amerika in Frage stellt. Dieses Narrativ, das auch viele Experten und Medienschaffende im Westen verbreiten, wird jedoch durch massive strukturelle Probleme in Frage gestellt, mit denen sich das Reich der Mitte in den nächsten Jahren und Jahrzehnten konfrontiert sieht. Ihre Bewältigung wird auch die Rolle Chinas als außenpolitischer Akteur wesentlich bestimmen.

China hat mit drei großen Herausforderungen zu kämpfen, die eng miteinander verflochten sind, in der englischen Sprache mit den drei Ds benannt: Debts, Deflation und Demographics, also Schulden, Deflation und Demographie. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Bevölkerungsentwicklung im Reich der Mitte, die sich aus Sicht der Verantwortlichen besorgniserregend darstellt: Brachte eine chinesische Frau in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im statistischen Durchschnitt noch mehr als sechs Kinder zur Welt, sind es aktuell weniger als zwei. Der demographische Niedergang wurde erheblich durch die Ein-Kind-Politik verschärft, die von der kommunistischen Staatsführung 1980 landesweit implementiert wurde. Ihr Ziel war es, die Bevölkerungszahl des Landes auf maximal 1,2 Milliarden Menschen zu begrenzen. Offiziellen Angaben zufolge hat die umstrittene Regelung die Geburten allein in den Jahren 1994 bis 2004 um 300 Millionen verringert.

Obwohl die Ein-Kind-Politik 2015 beendet und durch die Zwei-Kind-Doktrin ersetzt wurde, erblicken in China immer weniger Erdenbürger das Licht der Welt: 2019 sank die Zahl der Neugeborenen auf 14,65 Millionen, was einem Rückgang von 580.000 Babys im Vergleich zum Vorjahr entsprach. Damit setzte sich der langjährige Trend fort. Dass die Gesamtbevölkerung des Landes in dieser Zeit dennoch weiter gewachsen ist – 2020 zählte China über 1,4 Milliarden Einwohner, ein Anstieg von knapp 110 Prozent seit 1960 –, ist allein darauf zurückzuführen, dass die Menschen immer älter werden.

Senioren tragen jedoch nicht zum volkswirtschaftlichen Reichtum bei, weil sie im Regelfall nicht mehr am Erwerbsleben teilnehmen und vergleichsweise wenig konsumieren, dafür aber im überproportionalem Umfang Ressourcen vor allem im Gesundheitswesen sowie Leistungen der Altersvorsorge in Anspruch nehmen. Trotz steigender Lebenserwartung wird damit gerechnet, dass der im Dezember erstellte, aber noch nicht veröffentlichte Zensus für 2020 erstmals seit 70 Jahren einen Rückgang der Population ausweisen wird.

Diese Entwicklung alarmiert die chinesische Zentralbank, die People‘s Bank of China (PBC). Die PBC geht davon aus, dass infolge der schrumpfenden Zahl von Erwerbspersonen die jährliche Wachstumsrate von heute 5,7 Prozent auf nur noch 5,1 Prozent im Jahr 2025 sinken wird. Gleichzeitig sieht sich die Zentralbank gezwungen, in immer größeren Umfang Kredite an die lokale Wirtschaft zu vergeben, um die demographisch bedingte Abschwächung der Verbrauchernachfrage zu kompensieren. In einer Studie drängt die PBC deshalb die politisch Verantwortlichen in Peking dazu, eine familienpolitische Kehrtwende zu vollziehen und künftig »drei oder mehr« Kinder pro Haushalt anzustreben. Wörtlich heißt es in dem Papier:

»Um die langfristigen, für das Jahr 2035 anvisierten Ziele zu erreichen, sollte China die Geburtenkontrolle vollständig liberalisieren und das Kinderkriegen fördern sowie die Schwierigkeiten (der Frauen) im Zusammenhang mit Schwangerschaft, Geburt, Kindergartensuche und Schulanmeldung durch den Einsatz aller Mittel beseitigen.«

Experten halten es allerdings für zweifelhaft, dass es der Regierung selbst unter größten Anstrengungen gelingen wird, das Bevölkerungswachstum in China anzukurbeln. Denn dem Geburtenrückgang liegen tiefgreifende demographische und soziale Ursachen zu Grunde, die sich nicht einfach durch politische Maßnahmen beheben lassen. Er setzte bereits vor dem Beginn der Ein-Kind-Politik ein und folgt einem demographischen Entwicklungsmuster, das auch in anderen asiatischen Ländern und in den westlichen Industrienationen zu beobachten ist: Mit wachsendem Wohlstand und damit einhergehend besseren Bildungs- und Berufschancen für Frauen sinkt die Fertilitätsrate, auch weil die Opportunitätskosten der Kinderaufzucht in Form von Einkommensverlusten steigen. Im Übrigen ist eigener Nachwuchs in reichen Staaten – anders als in unterentwickelten Ländern – nicht mehr erforderlich, um die materielle Absicherung im Alter zu gewährleisten, weil diese Funktion vom Sozialstaat bzw. Systemen der privaten Rentenvorsorge übernommen wird. Selbst die von Peking kontrollierte »China Daily«, die größte englischsprachige Zeitung des Landes, hat im Dezember nüchtern konstatiert, dass der Bevölkerungstrend irreversibel ist.

Der Geburtenschwund gepaart mit der raschen Alterung der Gesellschaft wird gravierende ökonomische Folgen haben, und das nicht nur für China. Denn die Prosperität einer Volkswirtschaft bestimmt sich nicht nur aus ihrer technologischen Produktivität, sondern ist auch von der Zahl der zur Verfügung stehenden Arbeitnehmer und Konsumenten abhängig. Geht die zurück, sinkt die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen, während die Kosten für den Faktor Arbeit steigen. Im Falle Chinas, dem derzeit noch bevölkerungsreichsten Land der Erde, würde das nicht nur die heimischen Produzenten, sondern auch westliche Exportnationen und allen voran Deutschland treffen. Für die deutsche Wirtschaft ist das Reich der Mitte nach den USA der zweitwichtigste Handelspartner mit einem Ausfuhrvolumen von knapp 96 Milliarden Euro in 2020.

Nach Ansicht von Experten droht China in den kommenden Dekaden eine ähnliche Entwicklung wie Japan, das ebenfalls als Folge der ungünstigen Demographie seit den 1990er-Jahren mit rückläufigen Preisen (Deflation), einer exorbitant steigenden Staatsverschuldung und einem schwachen Wirtschaftswachstum zu kämpfen hat. Das chinesische Bruttosozialprodukt dürfte deshalb künftig weniger stark steigen als das vor dem Beginn der Corona-Pandemie der Fall war.

Abgesehen von diesen ökonomischen und fiskalischen Konsequenzen könnten das Image Chinas und das Ansehen seiner Regierung bei den Bürgern leiden. Die sind nämlich stolz darauf, dass ihr Land das bevölkerungsreichste der Welt ist. Sollten die neuen Zensusdaten zeigen, dass die Einwohnerzahl nun zu sinken beginnt, würde das die demographische Krise für die breite Öffentlichkeit sichtbar machen, was sich negativ auf das Selbst- und Sendungsbewusstsein der Chinesen auswirkte, so die Einschätzung von Huang Wenzheng, Mitarbeiter am Center for China and Globalization in Peking. Denn die beschriebenen, mit dem Bevölkerungsschwund verbundenen wirtschaftlichen Folgen würden das von der Staatsführung propagierte Ziel, die USA in den nächsten Jahrzehnten zunächst ökonomisch zu überrunden und schließlich auch politisch als die führende Nation der Erde abzulösen, in weite Ferne rücken lassen.

Dass China in den letzten vier Jahrzehnten zu den Vereinigten Staaten aufschließen konnte, hatte das Land seiner großen Bevölkerung und dem Heer an billigen Arbeitskräften zu verdanken, wie auch die PBC in ihrer Studie feststellt. Doch dieser Wettbewerbsvorteil geht mit dem unaufhaltsamen Geburtenrückgang dahin. Das Narrativ von China als der kommenden globalen Supermacht dürfte deshalb schon bald obsolet sein.

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Montag, 03.05.2021