Helmut Roewer

Ein Traum von Big Brother: Die Corona-App wird Wirklichkeit

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Teil 1: Das Smartphone als digitaler Pranger zur Stigmatisierung von erstaunlich vielen Bürgern, und was Vera Naiva davon hält.

Wochenlang wabert die Ankündigung durch die Medien, es werde eine Corona-App geben – und alles, alles werde wieder gut. Was das genau sein sollte, wurde und wird weniger thematisiert, nur dass alle schrecklich froh sein werden, wenn die App endlich da ist. Ich schiebe diese Neuigkeiten wochenlang beiseite, da ich kein entsprechendes Elektronik-Spielzeug besitze, auf welches ich Apps herunterladen kann. Ich weiß schon: Das ist ein bisschen die Vogel-Strauß-Methode, denn die Corona-App kommt tatsächlich. Ich notiere in mein Sudelbuch:

17. Juni 2020
Ich bin doch nicht blöd! – Warum fällt mir jetzt nur dieser saublöde Werbespruch ein? Ach so, ja: Corona-App: Ich bin doch nicht blöd.
Corona-App (2): Kenne niemanden, der das Ding installiert. Fazit: Ich habe die falschen Freunde.
Corona-App (3): Wenden Sie, wenn möglich, um.

Jetzt erst, reichlich spät, ist meine Aufmerksamkeit geweckt. Ich entschuldige mich (vor mir selbst) damit, dass in den letzten Wochen und Monaten so entsetzlich viel Corona-Kram behauptet worden ist, der sich hernach als Luftnummer entpuppte.

Der erste, der sich in meinem Blickfeld mit der Corona-App seriös auseinandersetzt, ist Holger Letsch auf seinem Blog Unbesorgt. Ich fasse seine wichtigsten Aussagen zusammen: Die Corona-App ist ein Zusatz-Programm, das der Besitzer eines Smartphones auf dessen Betriebssystem herunterladen kann. Er kann für das Herunterladen den Applestore oder die Google-Plattform nutzen. Herausgeber der Corona-App ist das Robert-Koch-Institut in Verbindung mit der Software-Firma SAP.

Die App ist für Personen ab dem 17. Lebensjahr zugelassen. Der Nutzer der Corona-App ist gehalten, im Falle einer Positiv-Testung von Covid-19 den Testschlüssel zu speichern. So weit, so einfach. Doch was passiert nun?

Zunächst einmal das Übliche: Das Handy sendet Standortsignale an den Telefonbetreiber, die diese speichert. Das tut er eigentlich aus Abrechnungsgründen, doch das ist nicht alles. Der Telefonbetreiber ist in Deutschland von Gesetzes wegen verpflichtet, die Daten des Handys, einschließlich der Verbindungsdaten, zu speichern und aufzuheben und, jetzt kommt’s, an die zur Abfrage befugten Behörden herauszugeben. Diese Daten stellen heutzutage ein Grundgerüst in der Strafverfolgung dar. Man spricht in diesem Fall zum Beispiel vom Bewegungsbild, das von einem potenziellen Täter erstellt wird.

Diese Art der Datenerhebung, der sich niemand entziehen kann, der in Deutschland telefoniert oder das Internet nutzt, ist ein Waisenknabe gegen das, was in den 2010er Jahren in Gang kam. Das eigentlich Neue war gestützt auf die gut zehn Jahre älteren, seit jenen Jahren kommerziell genutzten Navigationssystemen, die über Satelliten-Ortung funktionieren. Wie genau diese Ortungstechnik mittlerweile ist, kann jeder testen, der mit seinem Smart-Phone über Snapchat am Snap Map-Verfahren teilnimmt. Die Standorte der mit dem Interessenten verbundenen Teilnehmer werden in Europa und Nordamerika metergenau angezeigt. Es ist sogar zu erkennen, ob sich der Betroffene bewegt.

Nun kann man sagen, dass niemand gezwungen ist, am Snap Map-Verfahren teilzunehmen. Sicher richtig, doch zwei Einwendungen sind ernst zu nehmen: Das Snap Map-Verfahren beschreibt lediglich die Spielzeug-Seite einer Technik, die vorhanden ist, ob nun einer Mitspieler sein möchte oder auch nicht. Die metergenaue Standortbestimmung ist eingebaute Realität, nur der notorische Nicht-Handy-Träger stolpert insofern unüberwacht einher. Einstweilen. Bis er genötigt wird, ein solches Gerät bei sich zu tragen. Wir stehen an der Schwelle, dass genau dies geschieht. Wer kein Smart-Phone hat, wird aus einer Reihe normaler Alltagsabläufe ausgeschlossen. Versuchen Sie mal, bei der Postbank ein Girokonto zu betreiben oder in Oberstdorf zu parken. Doch jetzt geht es um Corona.

Rein formal passiert nicht viel anderes, als einen bestimmten weiteren Datensatz nebst Standortkontrolle dem ohnehin entstandenen und jede Minute neu entstehenden Datenozean hinzuzufügen. Wer sich an dem einen nicht stört, wird sich an der Corona-App auch kaum stören. Die Grundaussage von Vera Naiva [1] lautet gestern wie heute: Ich habe nichts zu verbergen. Darauf werde ich im zweiten Teil dieses Aufsatzes noch zurückkommen. Man muss, das sei vorweggesagt, auf jeden Fall im Auge behalten, dass nicht nur die Datenweggabe das eigentliche Risiko beinhaltet, sondern erst recht die Rückkehr der Daten zu irgendwem zum Zwecke der Verwendung für irgendwas.

Doch was geschieht nun? Unsere Freundin Vera, bekannt durch ihre häufigen liebevollen Mund-zu-Mund-Beatmungs-Hilfestellungen hatte sich infiziert, wurde positiv getestet und gibt ihrem Handy den Testcode ein. Nun läuft sie als wandelnde Warnmeldung herum. Nicht nur ihre ehemaligen Mundkontakte, sondern auch Briefträger, Kassiererinnen, Nachbarschaft und Zufallsbegegnungen erhalten Warnmeldungen.

Doch was tun die Gewarnten nun? Sie gehen Vera Naiva möglichst weiträumig aus dem Wege, das ist sicher. Und dann? Gehen die Vera-Kontakte zum Test, werden sie gefragt werden, ob sie Covid-19-Symptome haben. Haben sie die nicht, werden sie nicht getestet. Und müssen dann in 14-tägige Quarantäne? Falls ja, dann stellt sich in kürzester Frist der absolute Lockdown erneut und diesmal wie von selbst ein.

Sagen die Gewarnten hingegen, dass sie Symptome haben, werden sie getestet. Das setzt zunächst einmal voraus, dass es einen wirksamen Infektionstest gibt. Gibt es aber vermutlich nicht. Zu dieser Folgerung gelange ich, weil der jetzige Test ein Antikörper-Test ist. Das heißt auf Deutsch: Die Testperson hatte Covid-19 und hat hiergegen Antikörper gebildet, die man messen kann. Okay, ich unterstelle mal, dass das stimmt, dann wird dem Getesteten nunmehr anempfohlen, dass er sein Testergebnis in seine App einspeichert. Im Ergebnis bedeutet das, er läuft als neues und zusätzliches Warnsignal in der Gegend herum. Warum tut er das? Ich weiß es nicht, es sei denn, man unterstellt, dass der Anti-Körper-Besitzer seinerseits immer noch eine Ansteckungsgefahr für andere bedeutet. Wenn ich die einschlägigen Erklärungen aus Virologen-Mund aus den letzten Monaten Revue passieren lasse, wird dies nicht gerade durchgängig bestätigt. Die einen sagen so, die andern anders.

Erstes Zwischenergebnis: Die Corona-App verursacht, konsequent angewendet, eine Übersicht über Covid-19-positiv-getestete Personen und deren Bewegungen und kann sodann feststellen, wer deren Kontaktpersonen sind. Nächste Frage: Wozu ist das gut?

Es geht bei der nunmehr vorgenommenen Prüfung nicht um Technisches oder die Freude von Soziologen an möglichst vielen Rohdaten, sondern um eine Frage rechtlicher Zulässigkeit. Die Antwort beginnt mit der Feststellung, dass der Staat – und um dessen Maßnahme geht es hier – alles zu unterlassen hat, was rechtlich unzulässig ist. Zunächst einmal muss die handelnde Behörde zu genau dem fraglichen Handeln gesetzlich ermächtigt sein. Konkret geht es um das Behördenhandeln des Bundes. Dieser wird durch das Bundesgesundheitsministerium und das Robert-Koch-Institut tätig. Die Rechtsgrundlage ist das Bundesseuchengesetz. Was hiernach nicht ausdrücklich erlaubt ist, ist den Behörden verboten.

Diese für viele Leser möglicherweise erstaunliche Feststellung der Zweiteilung in Dürfen und Nichtdürfen folgt einer aus dem Grundgesetz abzuleitenden, seit nahezu 70 Jahren völlig herrschenden Rechtsauffassung in unserm Land: Bürger dürfen alles, bis auf das was ausdrücklich verboten ist, und Behörden hingegen dürfen nur das, was ihnen ausdrücklich erlaubt ist. Das ist der Kern des Rechtsstaats. Nebenbei: Preußens Rechtsprechung kam bereits vor rund 140 Jahren auf diese Idee. Es hat ein bisschen gedauert, bis sie allgemein akzeptiert wurde.

Demzufolge prüft man beim Behördenhandeln, ob es eine Rechtsgrundlage hat. Doch damit nicht genug. Rechtsgrundlage und das daraus abgeleitete Behördenhandeln müssen taffen Kontroll-Regeln standhalten:

Die Maßnahme muss für den verfolgten Zweck geeignet sein, der verfolgte Zweck darf nicht durch ein milderes Mittel erreichbar sein,
die Maßnahme darf kein Recht des Bürgers in nicht hinnehmbarer Weise beeinträchtigen.

Diesen Dreiklang nennt man das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Es wird im Politsprech gern, wenn auch selten zutreffend benutzt. Der Leser, der die einzelnen Elemente in Ruhe zur Kenntnis nimmt, wird mit mir übereinstimmen, dass in jedem von ihnen Streitstoff die Hülle und Fülle enthalten ist. Vor allem im dritten Prinzip, dem der nicht hinnehmbaren Rechtsbeeinträchtigung. Doch die beiden ersten Prinzipien sind handfester. Wir wollen ihnen nachgehen.

Das A und O der Rechtmäßigkeitsprüfung ist zunächst die Klärung, zu welchem Zweck der Staat hier eigentlich Maßnahmen ergreift. Da zögert man bei der Einführung der Corona-App bereits. Also noch mal und mit anderen Worten: Was soll mit der App eigentlich erreicht werden? Es soll die Entstehung und die Ausbreitung einer Seuche verhindert werden. Dient die App diesen Zwecken? Die Entstehung der gegenwärtigen Covid-19-Epidemie kann nicht verhindert werden, denn sie ist bereits da. Was also ist mit der Ausbreitung? Die App generiert Testergebnisse und die Bewegungen getesteter Personen. Die Tests, um dies zu wiederholen, spiegeln das Vorhandensein von Antikörpern. Die Getesteten müssen ansteckend sein. Ist dies nicht der Fall, können wir uns den Rest sparen. Ist das so, kommt der Ausbreitungsverhinderungszweck ins Hintertreffen. Sind die Getesteten weiterhin ansteckend, können wir weiterreden.

Die Erfassung der Testpersonen lässt sich sonst nur noch halten, wenn aus dieser Datensammlung unbedingt notwendige andere Erkenntnisse für die Seuchenbekämpfung gewonnen werden können. Darüber wird man vermutlich trefflich streiten können. Doch unterstellen wir einmal, dass dies der Fall ist, weil die Daten die Grundlage für die Ermittlung der sogenannten Durchseuchung der Gesellschaft darstellen können. Von Durchseuchung sprechen die Fachleute, wenn ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung infiziert war und Antikörper bis hin zur Immunität entwickelt hat. Die Ausbreitung einer Seuche und schließlich die Seuche selbst kommen dann regelmäßig zum Stillstand.

Man wird, falls die vorgenannten tatsächlichen Faktoren zutreffend sind, kaum bestreiten können, dass der Grad der Durchseuchung einer Regierung wichtige Hinweise für Handlungen während einer Seuche liefern kann. Mit dieser Feststellung ist jedoch keineswegs geklärt, ob die Corona-App diese Erkenntnisse liefert.

Die Antwort lautet: höchstwahrscheinlich Nein.

Denn Kontaktpersonen, deren Status unklar bleibt, machen die Erkenntnislage auch nicht besser. Ich kann mir auch nicht erklären, welchen Sinn es haben soll, wenn der Auswerter die Bewegungsdaten der positiv Getesteten und die der übrigen Bevölkerung erhält, egal ob Kontaktperson oder nicht.

Solche Datenerhebung ist nur sinnvoll, wenn ich Bewegungsverbote erlassen und kontrollieren will. Bayerns Ministerpräsident hätte vermutlich gejubelt, und seine Polizei wäre aus den Sonderschichten nicht mehr herausgekommen. Aber Seuchenbekämpfung? Da scheiden sich die Geister.

Bleibt die letzte Chance: Ich als Nicht-Infizierter – falls ich das weiß oder mir zumindest einbilde – bemerke, wenn ich mich einem Infizierten nähere und kann den berühmten zwei-Meter-Abstand einhalten. Mag sein, dass das für Leute, die ohnehin nicht arbeiten, eine Variante ist. Es wirkt beruhigend, nachdem zuvor die Furcht, sich anzustecken, dank weltweiter Panikmache dem Siedepunkt nahegekommen ist. Es wird nicht lange dauern, dann wird auch dem Dümmsten klar, dass die Corona-App nichts anderes ist als eine digitale Stigmatisierung von positiv Getesteten – egal ob ansteckend oder nicht. Diese werden es sehr schnell gewahr werden, wenn sie versuchen, in Geschäfte, Verkehrsmittel, in Gaststätten oder in ihre Arbeitsstätten hineinzukommen. Da heißt es dann: Hunde und Covid-19 bleiben draußen. Vera Naiva wird sagen: Aber das ist doch auch gut so. Nur, mit der eigenen Betroffenheit und der Zahl der Getesteten wird die Freude an dieser Scheinsicherheit nachlassen.

Aber, so höre ich bereits, es ist doch alles freiwillig. Wenn es denn wirklich so wäre. Wir werden sehen. In einem zweiten Anlauf werde ich mich mit den Verursachern und Nutznießern dieser Aktion befassen.

[1] Vera Naiva ist ein Plagiat. Die Original-Namenträgerin geisterte einst durch die Strafrechtsvorlesungen von Professor Gert Geilen. Geilens Veranstaltungen waren wg. der naturnahen Beispiele sehr beliebt. Vera Naiva diente als eine Frau Mustermann bevorzugt bei der Erläuterung der Sexualdelikte des StGB. Mit dieser Fußnote sei an diesen ungewöhnlichen Rechtslehrer erinnert.

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Samstag, 20.06.2020