Torsten Groß
Justizreform in Polen: Kritik aus Deutschland unangebracht!
Die EU-Kommission hat ein neues Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen eingeleitet. Grund ist ein im Februar vom polnischen Parlament verabschiedetes Gesetz zur Neuordnung der Justiz, das in bestimmten Fällen ermöglicht, Sanktionen gegen Richter zu verhängen. Die müssen künftig mit Geldstrafen, Herabstufung oder sogar Entlassung rechnen, wenn sie die Entscheidungskompetenz oder die Rechtmäßigkeit des Handelns anderer Richter, einer Kammer oder eines anderen Gerichts in Frage stellen. Außerdem soll es ihnen künftig verboten sein, sich politisch zu betätigen. Aus Sicht der EU-Kommission untergrabe das Gesetz die richterliche Unabhängigkeit und sei auch nicht mit dem Vorrang europäischen Rechts vereinbar, begründet Justizkommissar Didier Reynders den Schritt in einer Twitter-Nachricht.
Bereits seit Jahren strebt die in Polen seit 2015 allein regierende nationalkonservative Prawo i Sprawiedliwość (kurz PiS) eine Reform der Justiz an, deren Strukturen noch auf die Zeit der kommunistischen Diktatur zurückgehen. Dabei gerät Warschau immer wieder in Konflikt mit der Europäischen Union. Ein 2017 beschlossenes Gesetz, das die Senkung des Pensionsalters von Richtern vorsah, wurde auf Betreiben der EU-Kommission vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) 2019 gekippt. Die Maßnahme sei geeignet, die richterliche Unabhängigkeit und die Gewaltenteilung zu gefährden, so die Straßburger Richter in ihrer Begründung.
Ebenfalls auf Antrag Brüssels hat der EuGH vor knapp zwei Wochen in einer Eilentscheidung angeordnet, dass die 2018 eingerichteten Disziplinarkammern, die das Gebaren von Richtern in Polen überprüfen und ggf. maßregeln sollen, ihre Arbeit bis zu einem Urteil in der Hauptsache einstellen müssen.
Befürworter der polnischen Justizreform weisen den Vorwurf, die Regierung wolle die Justiz überwachen und so die Gewaltenteilung aushebeln, zurück. Es gebe gar keine echte Gewaltenteilung in Polen, so die Argumentation, weil das Justizwesen zwar Legislative und Exekutive kontrolliere, umgekehrt aber kein demokratisch legitimiertes Gremium existiere, dass die Judikative beaufsichtige, um einen möglichen Machtmissbrauch zu verhindern.
Es gehe also nicht um den Abbau der Demokratie, sondern das genaue Gegenteil, so der Historiker David Engels. Darüber hinaus wird der Richterschaft Korruptionsanfälligkeit vorgeworfen, weil es an Kontrollmechanismen fehle.
Eine große Mehrheit der Polen befürworte deshalb die Reformanstrengungen der konservativen PiS, zumal die Richter in der Bevölkerung unbeliebt seien, heißt es aus regierungsnahen Kreisen.
Es soll an dieser Stelle nicht auf das Für und Wider der in Polen geplanten Neuordnung des Justizwesens eingegangen werden. Viel interessanter ist eine andere Frage: Wie steht es eigentlich um die Unabhängigkeit der Justiz in Deutschland, zumal die Bundesregierung in der EU zu den lautesten Kritikern der PiS-Administration in Warschau gehört? – Nicht zum Besten, um das Fazit gleich vorwegzunehmen!
Hierzulande entscheiden Richterwahlausschüsse über die Besetzung der Bundesgerichte. Sie setzen sich gemäß Art. 95 Abs. 2 GG zu gleichen Teilen aus den Justizministern der Länder und Mitgliedern des Deutschen Bundestages zusammen. Für das Bundesverfassungsgericht existiert ein eigenständiges Wahlverfahren, das in Art. 94 Abs. 1 GG geregelt ist. Dessen Richter werden je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gewählt. In beiden Fällen besteht eine wichtige Gemeinsamkeit: Die Auswahl der Richter obliegt Politikern, die entweder einem Parlament, also der Legislative, oder einer Regierung und damit der Exekutive angehören. Fragwürdig ist vor allem die Beteiligung von Vertretern der Legislative an der Wahl der Richter speziell des Bundesverfassungsgerichts. Denn die Parlamente beschließen die Gesetze, die im Zweifel vom Verfassungsgericht daraufhin überprüft werden müssen, ob sie mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Auch die Mitwirkung der Länderjustizminister als Teil der Exekutive an der Richterauswahl ist umstritten. Schließlich haben das Bundesverfassungsgericht und die obersten Bundesgerichte unter anderem die Aufgabe darüber zu wachen, ob die Entscheidungen von Regierungen und Behörden den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechen. Man denke nur an die Beobachtung von Oppositionsparteien durch den Verfassungsschutz.
Das bedeutet also: Legislative und Exekutive in Deutschland suchen sich ihre Kontrolleure selbst aus! Mit echter Gewaltenteilung, immerhin eine der tragenden Säulen des Rechtsstaats, ist dieses Auswahlverfahren nicht zu vereinbaren und steht deshalb schon seit Jahrzehnten in der Kritik.
Was aber noch sehr viel problematischer ist: Die Mitglieder sowohl der Richterwahlausschüsse als auch der Parlamente sind allesamt Parteipolitiker. Die Erfahrung der Praxis zeigt: Im Zweifel ist es nicht die fachliche Eignung, die über die Besetzung einer vakanten Richterstelle entscheidet, sondern die politische Nähe eines Bewerbers zu den Zielen der Partei, die ihn vorschlägt. Einige der Bundes- und Verfassungsrichter sind selbst Parteimitglieder, etwa Peter Müller, früher CDU-Ministerpräsident des Saarlandes, und Stephan Harbarth, zuvor stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag. Harbarth wird in diesem Jahr den ursprünglich von der SPD nominierten Andreas Voßkuhle in seiner Funktion als Präsident des Bundesverfassungsgerichts ablösen.
Nach Art. 3 Abs. 2 GG hat die Auswahl von Bewerbern für öffentliche Ämter nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung zu erfolgen. Dieses vom Grundgesetz vorgegebene Prinzip der Bestenauslese gilt auch für das Richteramt. Doch die Wirklichkeit in Deutschland sieht anders aus. In der real existierenden Bundesrepublik werden die Richterämter von den politischen Parteien als Beute betrachtet, deren Verteilung in einem intransparenten Verfahren hinter verschlossenen Türen ausgekungelt wird. Dabei kommen zuvörderst CDU und SPD, in jüngerer Zeit aber auch die Grünen mit ihren Personalvorschlägen zum Zuge.
Partei- und Ideologietreue haben Vorrang vor Eignung und Leistung, was immer wieder zur Folge hat, dass minderbefähigte Kandidaten auf hoch dotierte Richterstellen berufen werden.
In Frage steht auch die von Hans-Jürgen Papier so bezeichnete »innere Unabhängigkeit« der Richter, also ihre Fähigkeit und Bereitschaft, sich medialem Druck und von außen herangetragenen sachfremden Erwägungen bei der Beurteilung juristischer Sachverhalte zu entziehen, vor allem wenn die zur Entscheidung anstehenden Fälle einen politischen Bezug haben. Seit Jahren ist speziell mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht eine Politisierung der Rechtsprechung zu beobachten, die sich unter der Ägide des seit 2010 amtierenden Präsidenten Andreas Voßkuhle deutlich verstärkt hat.
Beispielhaft sind hier die Entscheidungen zur Gleichstellung der Homo-Ehe, zum Kopftuchverbot und zum Asylbewerberleistungsgesetz zu nennen, die in seine Amtszeit fielen und die frühere Urteile teilweise revidiert haben. Doch schon vor Vosskuhle ist das Bundesverfassungsgericht immer stärker in die Rolle des Gesetzgebers geschlüpft.
»Richtermacht hat sich in Rechtsetzungsmacht gewandelt. Das erklärt das Interesse der Parteien daran, ihr Monopol bei der Auswahl der Bundesrichter mit Klauen und Zähnen zu verteidigen«, kommentierte der angesehene Rechtswissenschaftler Bernd Rüthers schon vor 20 Jahren! Anstatt die Bundesrichter von den Parteien bestimmen zu lassen, sollten freie Richterstellen öffentlich ausgeschrieben und auf Grundlage klarer fachlicher Anforderungskriterien in einem transparenten Auswahlverfahren vergeben werden, so Rüthers. Doch eine solche Reform lässt nach wie vor auf sich warten.
Hinzu kommt, dass die Judikative in Deutschland als dritte Gewalt im Staat organisatorisch stets von der Exekutive abhängig war und ist. Die Leitung der Justiz obliegt einem Minister. Er entscheidet über die Zuweisung von Personal und Sachmitteln an die Gerichte, die zuvor vom Parlament (Legislative) bewilligt wurden. Staatsanwälte sind sogar weisungsgebunden. Das widerspricht dem Grundgedanken der Gewaltenteilung. Schon vor knapp 70 Jahren, im Jahre 1953, hat der 40. Deutsche Juristentag unter Hinweis auf das Grundgesetz gesetzgeberische Maßnahmen angemahnt, »um die Unabhängigkeit des erkennenden Richters sowohl durch die Art seiner Auswahl und Beförderung als auch durch seine Stellung gegenüber der Verwaltung institutionell zu sichern«. Geschehen ist das bis heute nicht.
Sowohl in den Empfehlungen des Europarats als auch in den Kriterien der Europäischen Union über die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten heißt es, dass die Entscheidung über Auswahl und Laufbahn von Richtern von der Exekutive unabhängig sein sollte. In vielen europäischen Ländern wird diese Vorgabe erfüllt, nicht so in Deutschland. Die Bundesrepublik wäre deshalb ein problematischer Beitrittskandidat, würden wir uns erst jetzt um eine Mitgliedschaft in der EU bewerben.
Man kann über die Justizreform in Polen und die von der nationalkonservativen PiS angestrebte Neuordnung des Gerichtswesens sicherlich kontrovers diskutieren. Doch gerade die Bundesregierung sollte sich in dieser Debatte stark zurückhalten. Denn in puncto Unabhängigkeit der Justiz und speziell der Gerichte ist Deutschland alles andere als ein Vorbild. Und wer im Glashaus sitzt, sollte bekanntlich nicht mit Steinen auf andere werfen!
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Samstag, 02.05.2020