Andreas von Rétyi
Kontroverses Großprojekt:
Wissen Computer, wie alt wir werden?
Wissen Computer, wie alt wir werden?
In jüngster Zeit ist das Projekt Young.AI des US-Biotech-Unternehmens Insilico Medicine in einigen Fachmedien zu Zukunftstechnologien in die Diskussion geraten. Forscher wollen die individuelle Lebenserwartung eines Menschen vorhersagen.
Das Ganze gleicht dem Blick in eine Glaskugel des 21. Jahrhunderts. Das Unternehmen Insilico Medicine will indes die hohen Kapazitäten moderner Computer und Künstlicher Intelligenz nutzen, um Vorhersagen über die Lebenserwartung eines Menschen zu treffen. Die Firma präsentiert Videos und symbolische Grafiken mit menschlichen Körpern voller Uhren. Jeder von uns trägt sie in sich, Lebensuhren, die unterschiedlich schnell ticken.
Insilico Medicine will ermitteln, wie schnell die verschiedenen Uhren ticken, die ein Mensch in sich birgt. Wie steht unser biologisches Alter in Relation zum kalendarischen Zeittakt, wo liegen die Schwachstellen in uns? Das Projekt Young.AI zielt darauf ab, die für uns bedrohlichsten, weil am schnellsten tickenden Zeitgeber des Körpers ausfindig zu machen und rechtzeitig Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Grundlage sei eine »tiefe Lernphase« anhand einer großen Menge an Bluttests gewesen: Untersucht worden seien insgesamt rund 130 000 Proben von Südkoreanern, Kanadiern und Osteuropäern. Eine umfassendere Studie auf dem Gebiet hat es zuvor wohl nie gegeben.
Ein Weckruf für die Lebensuhr?
Alles in allem flossen in den Bluttest 21 typische Blutparameter ein. Ein weit entwickeltes Analyseprogramm soll nun diese Daten mit Alter, Ethnie und verschiedenen anderen Informationen verknüpfen, um laut Angaben von Insilico Medicine die »erste verlässliche Altersuhr für Menschen« zur Verfügung zu stellen. Geschäftsführer Dr. Alex Zhavoronkov erklärt selbstbewusst: »Unser Test liefert Menschen einen nüchternen Einblick, wie schnell oder langsam ihre biologische Uhr tickt. Und denjenigen, die erfahren, dass ihr Körper mit einem schnellen, ungesunden Tempo altert, dient der Test hoffentlich als Weckruf, sie zu überzeugen, jetzt die erforderlichen Schritte zu unternehmen, sodass sie ihrem Leben noch weitere Jahre hinzufügen können – und das alles mittels eines Bluttests.« Noch vor Kurzem sei dies völlig undenkbar gewesen, erklärt die junge Computerwissenschaftlerin Polina Mamoshina sichtlich begeistert. Die Mitarbeiterin von Insilico Medicine betont: »Dank Künstlicher Intelligenz und der unglaublich schnellen Computerleistung unser lernenden neuralen Netzwerke können wir Muster und Formeln im großen Pool an Blutuntersuchungen auffinden, die noch vor ein paar Jahren nie entdeckt worden wären.«
Nichts als eine Datenfalle
An diesem Projekt kann jeder teilnehmen – wie heute üblich, per Internet. Dazu muss man die Ergebnisse eines für 18 Parameter bereits durchgeführten Bluttests eingeben, außerdem noch eine Gesichtsfotografie. Die Analyse ist kostenfrei, nach ein paar Sekunden trifft bereits das Auswertungsergebnis ein. Man darf skeptisch sein, was das Ganze wirklich bringt. Letztlich gibt es vernünftige Grundregeln eines gesunden Lebens, die jeder auch ohne einen solchen Test befolgen kann. Sich einer selbsterfüllenden Prophezeiung auszusetzen und dazu noch sehr sensible persönliche Daten ins Internet zu senden, ohne zu wissen, wohin sie wandern und wofür sie wirklich verwendet werden, das klingt kaum verlockend. Sogar das Konterfei soll man ablichten und zur Auswertung verschicken! Insilico Medicine ist zudem deutlich mit der Pharmaindustrie vernetzt und nennt als Mission, Künstliche Intelligenz für die Entwicklung neuer Medikamente und Biomarker sowie zur Altersforschung zu nutzen. Vor allem aber: Viele Faktoren sind noch völlig unbekannt, wenn es um die zeitlichen Veränderungen im menschlichen Organismus geht. Die Genauigkeit der neuen Tests steht erst zu beweisen. So wie es jetzt aussieht, gibt der Teilnehmer vor allem gutwillig seine Daten an Young.AI preis, ohne wirklich etwas davon zu haben.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Kopp Exklusiv.
Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit mit einem Abo, falls Ihnen dieser Beitrag gefallen hat.