Torsten Groß

Nukleare Abschreckung: Rückkehr zum Kalten Krieg?

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Am Dienstag vergangener Woche hat der russische Präsident Wladimir Putin ein Dekret mit dem Titel »Über Grundlagen der staatlichen Politik der Russischen Föderation im Bereich der nuklearen Abschreckung« unterzeichnet. Das Papier legt unter anderem fest, unter welchen Voraussetzungen Russland Atomwaffen als Mittel der militärischen Auseinandersetzung einsetzen will.

Die Richtlinie ist eine Fortentwicklung der neuen Militärdoktrin Russlands aus dem Jahre 2014. Sie präzisiert die Bedingungen für den Einsatz von Kernwaffen durch die russischen Streitkräfte. Genannt werden vier mögliche Gründe für eine atomare Eskalation:

1. Es liegen zuverlässige Informationen über den Abschuss ballistischer Raketen durch den Gegner vor, die auf das Territorium Russlands bzw. seiner Verbündeten zielen. Seit 2014 betrachtet Moskau die NATO und die Vereinigten Staaten von Amerika als Hauptfeinde der Russischen Föderation.

2. Der Gegner setzt nukleare oder andere Massenvernichtungswaffen gegen Russland ein, die entweder von seinem eigenen Gebiet oder dem eines verbündeten Staates aus gestartet werden.

3. Der Feind ergreift Maßnahmen gegen Russland und seine militärischen Einrichtungen, die das Ziel verfolgen, die Fähigkeit der Föderation zu einer nuklearen Gegenreaktion zu beeinträchtigen.

4. Russland sieht sich mit einer konventionellen Aggression konfrontiert, die den russischen Staat in seiner Existenz bedroht.

Kritische Beobachter verweisen vor allem auf den letztgenannten Punkt und sehen darin eine Abkehr vom Grundsatz »No First Use« durch Moskau, was die Gefahr einer nuklearen Eskalation im militärischen Spannungsfall deutlich erhöhe und damit eine Situation heraufbeschwöre, wie sie zur Zeit des Kalten Krieges zwischen den damaligen Supermächten herrschte. Allerdings ist die im neuen Putin-Dekret niedergelegte Bereitschaft, in einer zunächst konventionell geführten Auseinandersetzung notfalls auch Nuklearwaffen einzusetzen, nicht neu, sondern bereits in der Militärdoktrin von 2014 verankert. Dass Moskau diese Absicht jetzt noch einmal bekräftigt und das in einem präsidialen Dekret, das man entgegen früherer Gepflogenheiten öffentlich macht, kann als eine klare Warnung an die Adresse der USA und des Westens verstanden werden.

Neu sind allerdings die erste und die dritte Begründung für den möglichen Einsatz von Nuklearwaffen. Für einen Vergeltungsschlag soll bereits die Tatsache ausreichend sein, dass Raketen in Richtung Russland oder eines seiner Alliierten abgefeuert wurden. Man will also nicht abwarten, bis die Projektile auf russischem Gebiet oder dem Territorium eines Verbündeten einschlagen. Vielmehr kann ein nuklearer Vergeltungsschlag bereits dann ausgelöst werden, wenn ein Frühwarnsystem den Start von Raketen meldet, die beispielsweise in den USA oder Europa stationiert sind.

Gerade erst hat Russland den letzten von insgesamt vier sog. Tundra-Satelliten in die Erdumlaufbahn gebracht, mit dem ein Raketenfrühwarnsystem im Weltall komplettiert wird. Das System ermöglicht eine permanente Überwachung der USA, kann den Abschuss ballistischer Flugkörper registrieren sowie ihre Flugbahn und den genauen Einschlagsort berechnen. Die vorgezogene Reaktion auf einen möglichen Raketenangriff durch die Vereinigten Staaten gestützt auf die Informationen eines Frühwarnsystems erhöht das Risiko eines »Nuklearkriegs aus Versehen«, weil es zu Fehlalarmen kommen kann.

Dass diese Gefahr durchaus real ist, zeigt ein Vorfall aus dem Jahre 1983.

Am 26. September 1983 löste ein ebenfalls satellitengestütztes Überwachungssystem nahe Moskau Alarm aus und zeigte den Abschuss von Interkontinentalraketen in den USA auf das Territorium der damaligen UdSSR an. Die sowjetische Strategie sah für einen solchen Fall einen sofortigen und umfassenden atomaren Gegenschlag vor. Dass es dazu nicht kam, war dem diensthabenden Offizier, Oberstleutnant Stanislaw J. Petrow, zu verdanken, der die Meldung des Systems als unzutreffend erkannte und den vermeintlichen Angriff nicht an seine vorgesetzte Dienststelle weitermeldete. Durch sein Verhalten hat Petrow eine fatale hierarchische Kettenreaktion und damit wohl den Ausbruch eines Dritten Weltkrieges verhindert.

Später stellte sich heraus, dass die russischen Satelliten Sonnenreflexionen auf Wolken in der Nähe eines US-amerikanischen Nuklearwaffendepots als Raketenstarts fehlinterpretiert hatten. Nach der Kubakrise von 1962 war dieses Ereignis nach Meinung von Historikern das gefährlichste im Kalten Krieg und hätte bei einem anderen Verlauf den Untergang der Menschheit bedeuten können.

Für die Zukunft noch stärker ins Gewicht aber fällt die im Putin-Dekret festgelegte Direktive, auch Angriffe auf »kritische« militärische Infrastruktur, die geeignet sind, die nukleare Reaktionsfähigkeit Russlands zu untergraben, mit einem atomaren Gegenschlag zu beantworten. Diese Formulierung ist interpretationsoffen und könnte deshalb dazu beitragen, die Schwelle zum Einsatz von Nuklearwaffen zu senken. Zunächst einmal ist unklar, welche Einrichtungen als sensibel einzustufen sind, wenn es um die Fähigkeit Russlands geht, sein Kernwaffenpotenzial zu nutzen. Darunter könnten neben den Nuklearstreitkräften selbst jetzt auch Überwachungssysteme, logistische Unterstützungseinheiten und Fabriken fallen, in denen solche Massenvernichtungswaffen produziert werden.

Auch der im Papier gebrauchte Begriff »Maßnahmen« ist offenbar mit Absicht weit gefasst. Nicht mehr nur ein atomarer Erstschlag, sondern auch konventionelle Angriffe und Cyberattacken auf relevante, weil für die nukleare Abschreckung Russlands bedeutsame Objekte könnten künftig eine atomare Reaktion provozieren. Man stelle sich vor, dass Terrorgruppen mit Hackerangriffen wichtige Infrastruktur wie Kommandozentralen oder Informations- und Kontrollsysteme der Strategischen Raketentruppen Russlands lahmlegen und dabei eine Aggression der NATO vortäuschen, um so eine militärische Konfrontation zwischen der Russischen Föderation und dem Westen herbeizuführen.

An anderer Stelle im jüngst veröffentlichen Richtlinienpapier des Kreml heißt es, dass die russische Nuklearabschreckung auch das Ziel verfolgt, die Eskalation von Feindseligkeiten oder ihre Einstellung zu Bedingungen zu ermöglichen, die für Russland bzw. ihre Verbündeten akzeptabel sind. Dieser Satz lässt die Schlussfolgerung zu, dass die Strategen in Moskau offenbar von der Möglichkeit ausgehen, dass ein begrenzter (taktischer) Einsatz von Kernwaffen möglich ist, um in einem zunächst konventionell geführten Krieg eine militärische Wende herbeizuführen. Diese Annahme könnte die grundsätzliche Bereitschaft Russlands erhöhen, einen lokal begrenzten Konflikt mit einzelnen NATO-Staaten etwa im angrenzenden Baltikum zu riskieren, den man im Fall eines ungünstigen Verlaufs mit Hilfe von Atomwaffen gesichtswahrend beenden würde. Diese als »Eskalation zur Deeskalation« bezeichnete Strategie hat wiederum die USA veranlasst, eigene Nuklearprogramme wie die Stationierung von Atomsprengköpfen mit geringerer Sprengkraft (sog. Mini-Nukes) auf U-Booten aufzulegen. So soll die Fähigkeit Moskaus, einen begrenzten Atomkrieg führen zu können, neutralisiert und damit auch das Risiko regionaler militärischer Konflikte reduziert werden. Gleichzeitig steigt dadurch aber die Gefahr eines atomaren Schlagabtauschs, sollte es doch zu bewaffneten Feindseligkeiten kommen.

Das neue Dekret Putins spiegelt das angespannte Verhältnis zwischen Russland und den USA wider, das sich nach Aufkündigung des INF-Abkommens zur Begrenzung von Atomwaffen durch die US-Regierung im Februar 2019 in Reaktion auf die Stationierung neuer russischer Marschflugkörper zusehends verschlechtert hat. Im Mai dieses Jahres gab Trumps Sicherheitsberater Robert O’Brien bekannt, dass sein Land aus dem sog. Open-Skies-Vertrag zur gegenseitigen Luftraumüberwachung aussteigen wolle. Auch das START-Abkommen zur Reduzierung strategischer Trägersysteme für Nuklearwaffen, das von der Obama-Administration 2010 neu ausgehandelt worden war und im Februar 2021 ausläuft, steht auf der Kippe.

Im Weißen Haus wird sogar erwogen, die vor drei Jahrzehnten eingestellten Atomwaffentests wieder aufzunehmen. Die verschärfte russische Militärdoktrin ist ein weiterer Baustein in dieser bedrohlichen Entwicklung, die von der breiten Öffentlichkeit bislang kaum zur Kenntnis genommen wird.

Die Beziehungen zwischen Moskau und Washington haben einen neuen Tiefpunkt erreicht – was die Anhänger der sogenannten Russiagate-Verschwörungstheorie Lügen straft, die teilweise noch heute behaupten, Donald Trump sei nur mit russischer Hilfe ins Weiße Haus gekommen und in Wahrheit eine Marionette von Wladimir Putin!

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Montag, 08.06.2020