F. William Engdahl
Putin macht US-Flugzeugträger zu »Tontauben«
Anfang März hielt Russlands Präsident Wladimir Putin wie jedes Jahr eine Rede vor der Föderationsversammlung. In der im Fernsehen übertragenen Ansprache ging es auch um das russische Militär und die allerneueste Waffentechnik, die dort zum Einsatz kommt. Manche hielten dies für ein Wahlkampf-Manöver. Doch nun sind die Präsidentenwahlen vorbei – und Putin ist der überragende Sieger. Zeit für eine nüchterne Analyse.
Sieht man sich an, was Russland an Militärtechnologie auf den Schlachtfeldern Syriens seit September 2015 eingesetzt hat, gewinnt man den Eindruck, Washington übersehe offenkundig eine Entwicklung, welche die strategischen Gewichte spürbar verschieben wird. Viele hunderte Milliarden Dollar haben die USA in sogenannte Raketenabwehrschilde gepumpt – unter anderem in Südkorea, Japan oder Polen. Doch plötzlich sieht dies nach der reinsten Verschwendung von Zeit und Steuergeldern aus. Die Kernaussage von Putins Äußerungen zum Thema Sicherheit: Russland habe darauf reagiert, dass sich Amerika einseitig vom ABM-Vertrag von 1972 zurückzog und begann, Raketenschilde sowohl im eigenen Land wie auch jenseits der Staatsgrenzen zu stationieren.
Diese Entscheidung, welche die Regierung Bush/Cheney 2002 getroffen hatte, erlaubte es Pentagon und NATO, Russland einzukreisen. Rund um Russland wurde ein Ring ballistischer Raketen aufgebaut, die auf russische Raketenstützpunkte abzielen. Der ABM-Vertrag von 1972 habe einen Atomkrieg undenkbar gemacht, betonte Putin: »Der ABM-Vertrag erschuf nicht nur eine Atmosphäre des Vertrauens, sondern verhinderte auch, dass eine der Parteien unbesonnen Atomwaffen einsetzte. Das hätte die Menschheit gefährdet, denn die begrenzte Zahl an Abwehrsystemen gegen ballistische Raketen hätte den potenziellen Aggressor anfällig für einen Vergeltungsschlag gemacht.«
Nachdem sich Washington 2002 einseitig aus dem ABM-Vertrag verabschiedet hatte, leitete die US-Regierung eine Reihe aggressiver Schritte ein. Dazu zählt, dass die NATO um ehemals kommunistische Staaten Osteuropas erweitert wurde, dass in der Ukraine ein Staatsstreich mit anschließendem Bürgerkrieg angezettelt wurde, und dass in den neuen NATO-Mitgliedstaaten Rumänien und Polen Stützpunkte für den Raketenschild errichtet wurden, ebenso in Japan und Südkorea mit Blick auf den Fernen Osten Russlands. Und wie Putin sagte: »Der globale Raketenabwehrschild der USA umfasst außerdem fünf Kreuzer und 30 Zerstörer, die nach unserem Kenntnisstand in Regionen entsandt wurden, die nahe den russischen Grenzen sind.« Aus russischer Sicht stellen sie eine existenzielle Bedrohung dar.
Trump läutet neuen Kurs in Nuklearstrategie ein
Die russische Führung hat beschlossen, der Öffentlichkeit eine beängstigende Vielfalt an hochmoderner Rüstungstechnologie zu präsentieren, darunter atombetriebene Hyperschall-Marschflugkörper und Unterwasserdrohnen. Dabei handelt es sich nicht um ein Spektakel, das veranstaltet wird, um die russischen Wähler zu beeindrucken. Vielmehr ist es die klare Antwort auf die Lage zur Rede der Nation, die US-Präsident Donald Trump im Januar vor dem Kongress gehalten hatte, sowie auf das wenige Tage später veröffentlichte Papier zur amerikanischen Nuklearstrategie. Das hat Putin explizit so ausgeführt. In dem neuen Papier verzichtet die US-Regierung darauf, zu erklären, dass man Atomwaffen nicht als Erster einsetzen werde. Zudem schiebt sie eine Modernisierung des Arsenals an und erklärt, »neue« Atomwaffen entwickeln zu wollen.
Die Kapazitäten, Marschflugkörper und Atomraketen mit geringerer Sprengkraft von U-Booten abzuschießen, sollen wieder aufgestockt werden, außerdem sollen Waffenkontrollen an Bedeutung verlieren. In dem Papier zur Nuklearstrategie heißt es: »Die Vereinigten Staaten würden nur unter extremen Umständen den Einsatz von Atomwaffen erwägen, um lebenswichtige Interessen der Vereinigten Staaten, ihrer Verbündeten und Partner zu verteidigen. Zu den extremen Umständen könnten bedeutsame nicht-atomare strategische Angriffe zählen …«. Was Washington als »bedeutsamen nicht-atomaren strategischen Angriff« erachtet, bleibt allerdings offen. Syrien? Die Ukraine?
Putin sagte, Russland habe seit 2002 wiederholt versucht, den ABM-Vertrag wieder in Kraft treten zu lassen: »Wir kamen an einen Punkt, an dem ich dachte, ein Kompromiss sei möglich, aber es sollte nicht sein. All unsere Vorschläge – und zwar jeder einzelne – wurden abgelehnt. Dann erklärten wir, zum Schutz unserer Sicherheit müssten wir unsere modernen Erstschlagwaffen verbessern. Daraufhin erklärten die USA, sie würden keinen globalen Raketenabwehrschild gegen Russland errichten …« Das war selbstverständlich eine berechnende strategische Lüge. Nachdem Russland wiederholt vergeblich versucht hatte, mit den USA zu verhandeln, gelangte Moskau zu einem wichtigen Schluss: Seit Russland in der postsowjetischen Phase unter Jelzin in den 1990er Jahren militärisch und wirtschaftlich zusammenbrach, sind die USA entschlossen, nach einem absoluten einseitigen militärischen Vorteil zu streben, um künftig in jeder Sphäre die Bedingungen allein diktieren zu können.
Nukleare Vorrangstellung
Von einer nuklearen Vorrangstellung träumen die Strategen im Pentagon seit den 1950er-Jahren, als die Sowjetunion begann, Wasserstoffbomben und Interkontinentalraketen zu testen. Sie träumen von einer atomaren Überlegenheit der USA, die so groß ist, dass Amerika einen Erstschlag gegen Russland führen könnte, ohne allzu große Gefahr zu laufen, einem erheblichen Gegenschlag Russlands ausgesetzt zu sein, weil die amerikanische Raketenabwehr imstande wäre, die überwiegende Mehrheit russischer Atomwaffen auszuschalten. Die Raketenabwehr der USA ist keineswegs ausschließlich defensiv ausgelegt. Sollten die USA in der Lage sein, sich nach einem Erstschlag wirksam vor Vergeltungsmaßnahmen Russlands zu schützen, könnten die USA nicht nur Russland, sondern der ganzen Welt ihren Willen aufzwingen – die nukleare Vorrangstellung wäre erreicht. »Raketenabwehr ist das fehlende Bindeglied zu einem Erstschlag«, formulierte es mir gegenüber einmal der inzwischen verstorbene Oberstleutnant Robert Bowman, ehemaliger Leiter der Strategischen Verteidigungsinitiative von Ronald Reagan.
In seiner jüngsten Rede beschrieb Putin die strategische Ausgangslage, vor der die Militärplaner seines Landes stehen: »Die USA erlauben eine ständige, unkontrollierte Zunahme der Zahl der Interkontinentalraketen, arbeiten an der Qualität und erschaffen neue Raketenabschussgebiete. Unternehmen wir nichts, wird dies letztlich zu einer vollständigen Abwertung des russischen Atompotenzials führen. Das bedeutet, all unsere Raketen würden schlicht abgefangen werden.« Auch wenn es mit Atomwaffen von »geringer Sprengkraft« beginnt: Vor dem Hintergrund eines neuen Kalten Krieges und dem Szenario eines nuklearen Holocausts überrascht es nicht, dass Russlands militärische und sicherheitspolitische Entscheider beschlossen haben, sich in diesem eskalierenden Konflikt zwischen Ost und West auf eine angemessene Reaktion vorzubereiten.
Die neuen Superwaffen im Überblick
Putin stellte Maßnahmen vor, an denen die russischen Militärforscher im Geheimen seit 2002 gearbeitet haben, um ein Gegengewicht zu dem immer offenkundigeren Ziel der USA, eine nukleare Vorrangstellung herbeizuführen, in der Hinterhand zu haben. Es handele sich, so Putin, um Systeme »zum Überwinden der Raketenschirme. Sie sind auf all unseren Interkontinentalraketen installiert «. Die wirkliche Neuerung, die Putin vorstellte, ist die atemberaubende Zahl hochmoderner Raketen, die imstande sind, die Abwehrmaßnahmen der USA beziehungsweise der NATO zu überwinden.
Zunächst zeigte er in einem Film die neue Sarmat-Rakete (NATO-Codename: Satan 2). Die mehr als 200 Tonnen schwere Rakete ist mit ihrer kurzen Schubphase für die amerikanische Raketenabwehr sehr schwer abzufangen. Sarmats können mit mächtigen atomaren Sprengköpfen ausgerüstet werden, auch mit Hyperschall-Modellen, sowie mit den modernsten Abwehrmaßnahmen. Sie können von Positionen über dem Nordpol wie auch über dem Südpol aus angreifen. Anschließend erklärte Putin, Russland habe »kleine, robuste Nuklearmotoren« entwickelt, die sich in Raketen wie die russische, von Flugzeugen aus startbare X-101 (NATO Code: Ch-101) einbauen ließe. Es handle sich bei den Marschflugkörpern vom Typ X-101 um »niedrigfliegende Stealth-Raketen, die mit einem atomaren Sprengkopf bestückt sind, über eine nahezu unbegrenzte Reichweite verfügen, eine nicht berechenbare Flugbahn verfolgen und die Fähigkeit besitzen, Abfangmanövern zu entgehen. Sie sind von sämtlichen bestehenden und künftigen Raketenabwehrmaßnahmen und Luftabwehrsystemen nicht zu besiegen«, so der russische Präsident. Dann stellte er neue unbemannte Tauchfahrzeuge vor, die sich in großer Tiefe fortbewegen, und zwar »mit einer Geschwindigkeit, die um ein Mehrfaches höher ist als die von U-Booten, modernsten Torpedos und allen Arten von Oberflächenfahrzeugen. Es gibt auf der Welt nichts, was imstande wäre, es mit ihnen aufzunehmen.« Die neuen Tauchdrohnen können laut Putin entweder konventionelle oder atomare Sprengköpfe tragen. Das ermögliche es ihnen, unterschiedliche Ziele anzugreifen, »bis hin zu Flugzeugträgergruppen, Küstenbefestigungen und Infrastruktur«.
Kinschal und Avantgarde
Mit ihren zehn Flugzeugträgergruppen befolgen die Vereinigten Staaten eine Doktrin der Machtprojektion, aber durch die neuen Waffen sind diese Schiffe praktisch Tontauben, die darauf warten, zerstört zu werden. Putin sagte, der Atomantrieb in den Unterwasserdrohnen sei »hundertmal kleiner als die Einheiten, die moderne U-Boote antreiben, sie seien aber doch leistungsstärker und können 200-mal schneller in den Kampfmodus wechseln, also maximale Kapazität erreichen«. Putin präsentierte überdies ein »hochpräzises hyperschallschnelles luftgestütztes Raketensystem«, das den Codenamen Kinschal trägt. Es sei weltweit einzigartig und werde seit dem 1. Dezember des vergangenen Jahres in den Luftwaffenstützpunkten des südlichen Militärdistrikts getestet.
Zehnmal schneller als der Schall
»Die Rakete fliegt mit Hyperschallgeschwindigkeit, zehnmal schneller als der Schall«, so Putin. »Während des ganzen Fluges kann sie manövrieren, was es ihr ermöglicht, sämtliche bestehenden und ich denke auch alle künftigen Luftabwehr- und Raketenabwehrsysteme zu überwinden. Sie trägt über eine Strecke von über 2000 Kilometern hinweg atomare und konventionelle Sprengköpfe.« Schließlich stellte der russische Präsident noch Avantgarde vor, eine Rakete, die Geschwindigkeiten von über Mach 20 erreichen kann. Während der Annäherung an das Ziel manövriere der Gleiter sehr häufig – sowohl horizontal (»um mehrere tausend Kilometer«) als auch vertikal. Dadurch sei die Rakete von Luftabwehr oder Raketenabwehrsystemen überhaupt nicht abzufangen. Dank neuer Verbundmaterialien sei der Gleiter auch auf längerer Strecke stabil. Putin: »Er fliegt praktisch unter Bedingungen der Plasmabildung auf sein Ziel zu – wie ein Meteorit oder ein Feuerball. Die Temperatur auf seiner Oberfläche liegt zwischen 1600 und 2000 Grad Celsius, wobei der Block sicher steuerbar bleibt.«
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Kopp Exklusiv.
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