F. William Engdahl
Transatlantische Partnerschaft zerfällt –
Europa am Scheideweg
Europa am Scheideweg
Was sich auf der Weltbühne in den vergangenen Tagen und Wochen zugetragen hat, ist von allergrößter Bedeutung – und das nicht nur, weil die Ereignisse einen offenen Bruch innerhalb der G7-Nationen zeigen. Stellen wir uns den Planeten als riesiges elektrisches Kraftfeld vor, so befindet sich der Stromfluss mitten in einer dramatischen Umwälzung.
Das dollarbasierte System, das seit 1945 die Weltwirtschaft bestimmte, tritt in die Phase des ungeordneten Zerfalls und nähert sich seinem Ende. Europas politische Eliten sind derzeit gefangen zwischen Rationalität und Irrationalität, doch die Entwicklungen im Osten ziehen mehr und mehr Energie an. Möglicherweise sind wir aktuell Zeuge eines geopolitischen Polsprungs, einer Neuausrichtung der EU weg vom Westen – und in Richtung Osten.
Die jüngsten Entwicklungen in Eurasien, im Nahen Osten, im Iran und vor allem im Verhältnis zwischen Russland und China werden immer bedeutsamer, denn Washington hat nichts zu bieten außer Krieg – sei es Handelskrieg, Krieg in Form von Sanktionen, Terrorkrieg oder kinetischer Krieg. Was für ein Spektakel: Der US-Präsident beschimpft auf Twitter den kanadischen Premierminister, den Regierungschef eines langjährigen NATO-Verbündeten und guten Nachbarn, als »unaufrichtig und schwach« und droht neue Einfuhrzölle auf Autos aus Kanada an.
Allem Anschein nach haben wir es nicht mit dem neuesten Spleen eines unberechenbaren US-Präsidenten zu tun, vielmehr scheint dahinter die durchdachte Strategie zu stecken, alle Verbündeten Amerikas aus dem Gleichgewicht zu bringen. Zuvor hatte Washington bereits das Atomabkommen mit dem Iran in die Mülltonne geworfen, was in Europa, Russland und China und natürlich auch im Iran für Bestürzung sorgte. Und damit noch immer nicht genug: Im Handelskrieg mit der EU kündigten die USA weitere Strafzölle auf Aluminium und Stahl aus der EU an, obwohl das ein klarer Verstoß gegen Vereinbarungen der Welthandelsorganisation ist.
Schluss mit lustig
Werten wir diese Handlungen als Ausdruck für etwas Tiefergehendes, müssen wir nicht lange suchen. Erst kürzlich schrieb ich darüber, dass die Schulden der USA explodieren. Die Steuergesetzgebung, welche die Regierung Trump verabschiedet hat, wird den Staatshaushalt das nächste Jahrzehnt über mit geschätzten 1 000 Milliarden Dollar jährlich belasten – und natürlich sind da auch noch die 21 000 Milliarden Dollar, mit denen die Zentralregierung ohnehin bereits in der Kreide steht. Der Schuldenberg der Privathaushalte ist größer noch als vor der Finanzkrise von 2007, und nach zehn Jahren, in denen die Fed die Zinsen bei null hielt, schieben zahllose Firmen gewaltige Mengen an Verbindlichkeiten vor sich her, die nur Ramschstatus haben.
Ein weiterer Aspekt der aktuellen Wirtschaftslage in den USA wird wenig beachtet: Im Vergleich mit vielen anderen Ländern scheint das Durchschnittseinkommen von Familien in den USA recht hoch zu sein, aber eine aktuelle Untersuchung des USA Consumer Financial Protection Bureau hat ergeben, dass laufende Kosten wie Nahrung, Wohnen, Krankenversicherung und so weiter zum Entstehen einer neuen Form von Armut geführt haben. Der Umfrage zufolge haben knapp 50 Prozent aller Amerikaner Schwierigkeiten, Monat für Monat all ihre Rechnungen zu begleichen, und ein Drittel kennt Situationen, in denen das Geld für Essen, eine anständige Unterkunft oder eine medizinische Behandlung fehlte. Laut einer aktuellen Studie belaufen sich allein die medizinischen Kosten für eine vierköpfige Familie auf über 28 000 Dollar im Jahr, was dem halben gemittelten Durchschnittseinkommen entspricht.
Neben den trüben Aussichten für die amerikanische Wirtschaft kommen nun auch schlechte Nachrichten vom Verwaltungsrat für Medicare, die Krankenversicherung in den USA. Medicare werde in acht Jahren das Geld ausgehen, so die Prognose. Parallel dazu werde die Sozialversicherung erstmals seit 1982 wieder ein Minus machen, was daran liege, dass derzeit die geburtenstarken »Baby Boomer«-Jahrgänge in Rente gingen, weniger junge Menschen einzahlten, ohnehin die Fruchtbarkeitsraten sänken und die Bevölkerung immer langsamer wüchse. Der Staat New Jersey hat gerade eine Haushaltssperre verhängt, um eine Finanzkatastrophe abzuwenden. Wenn die US-Notenbank die Zinsen erhöht, wird eine Kettenreaktion von Zahlungsausfällen bei Unternehmen und Privathaushalten einsetzen.
Kurzum: Die US-Wirtschaft wurde vom obersten Prozent geschröpft, bis es nicht mehr ging. Der amerikanische Aktienmarkt steht gut da nach einem Jahrzehnt billiger Kredite, aber die wirtschaftliche Realität der Vereinigten Staaten sieht dann doch ein klein wenig anders aus. Im Bestreben, den USA ihren Status als einzige Supermacht der Welt zu bewahren, verengt sich der Spielraum der Entscheider immer stärker auf zwei Möglichkeiten: Krieg oder eine neue Finanzkrise, die schlimmer als die von 2008 ausfällt. Im Zuge dieser Krise kann dann der Versuch unternommen werden, die Kontrolle über die globalen Kapitalströme zurückzuerlangen.
Dass ein Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika gezwungen ist, gegen langjährige Verbündete aus G7-Kreisen zu Mitteln wie Handelskriegen zu greifen, spricht dafür, dass die Verzweiflung ihn zum Handeln verleitet. Tatsächlich geht es bei diesem Kampf um die Zukunft der EU und insbesondere Deutschlands.
Eurasien als Alternative
Wichtig in dieser Hinsicht sind die beiden Besuche, die Bundeskanzlerin Angela Merkel Russlands Präsident Wladimir Putin und Chinas Präsident Xi Jinping abstattete und bei denen es vermutlich um mehr ging als nur um das Atomabkommen mit dem Iran. Es ist paradox: Offiziell steht die Bundesregierung hinter den Sanktionen gegen Russland, gleichzeitig aber signalisiert sie, dass sie in bestimmten Bereichen Russland als Verbündeten benötigt. Das unterstreicht die politische Schizophrenie, die heutzutage in der EU herrscht. Aus wirtschaftlicher Sicht wird immer deutlicher, dass die Wachstumsmärkte im Osten liegen, und zwar vor allem im Bereich der »One Belt, One Road«-Initiative, dem gewaltigen chinesischen Infrastrukturprojekt mit seinen Hochgeschwindigkeits-Bahnverbindungen quer durch Eurasien und dem Neubau von Tiefseehäfen. Aber auch das wirtschaftliche Potenzial Russlands und des Iran sind für den Westen interessant.
Washington mag neue, drakonische Sanktionen gegen Moskau verhängt haben, aber dennoch hat Russland das bislang erfolgreichste Sankt Petersburger Wirtschaftsforum erlebt. Staats- und Regierungschefs sowie Führungskräfte aus der Wirtschaft kamen in Rekordmengen nach Sankt Petersburg, um über Möglichkeiten der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu sprechen. Beispielsweise kündigte der Chef der staatlichen Eisenbahn Russlands an, man werde sich am Bau der transarabischen Eisenbahn beteiligen. Geplant ist ein Streckenverlauf entlang des südlichen Endes des Persischen Golfs von Kuwait bis nach Oman.
Kommt das Vorhaben zustande, würde es die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Russland, Saudi-Arabien und China vertiefen. China hat sich in Saudi-Arabien bereits Investitionsprojekte im Volumen von 130 Milliarden Dollar gesichert, und trotz all seiner Fehler scheint es, als beabsichtige Kronprinz Mohammed bin Salman tatsächlich, Saudi-Arabien in ein wirtschaftliches Drehkreuz für gleich drei Kontinente zu verwandeln: für Asien, Europa und Afrika. Nach dem Wirtschaftsforum in Russland kam es unmittelbar danach zu einem weiteren wichtigen Treffen in Peking, nämlich zwischen Putin und Xi Jinping. Chinas Präsident verlieh Putin den goldenen Freundschaftsorden, die höchste Ehre, die Peking einem Ausländer zukommen lassen kann.
Russland und China häufen gewaltige Goldreserven an
Der russische Präsident sei »der beste Freund und uns vertraut wie sonst niemand«, hieß es in der Begründung. Es folgte ein Treffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Qingdao, an dem erstmals als Vollmitglieder auch Pakistan und Indien teilnahmen. Der Iran war als Beobachter anwesend. Zur SOZ gehören damit nun Pakistan, Indien, Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Usbekistan, Russland und China. Bei einem Treffen der Staatspräsidenten Russlands, Chinas und der Mongolei verkündete Putin, man werde bis 2020 insgesamt 260 Millionen Dollar in die Modernisierung des über Ulaanbaatar verlaufenden Streckenabschnitts der Transsibirischen Eisenbahn und angrenzende Abschnitte investieren. 2017 ist laut Putin der Containerverkehr auf der Strecke, die von China und der Mongolei über Russland nach Europa führt, um das 2,7-Fache angewachsen und allein in den ersten drei Monaten des Jahres um das Vierfache.
Das wirtschaftliche Potenzial Eurasiens erscheint immer mehr wie eine realistische Alternative zum transatlantischen, auf dem US-Dollar basierenden System mit seinen astronomischen Schulden. Die Zentralbanken von Russland und China häufen im Expresstempo Goldreserven an und arbeiten mit ihren eigenen Landeswährungen anstelle des US-Dollars, der sie anfällig für Sanktionen macht. Auf diese Weise eröffnen sich neue Möglichkeiten für eine multipolare Welt. Auch die Ausweitung der »One Belt, One Road«-Initiative beginnt sich auszuwirken. Laut einer neuen Studie der ING-Bank könnte das Infrastrukturprojekt den globalen Handel um bis zu zwölf Prozent steigern, möglicherweise noch mehr.
Der Euro befindet sich derzeit in einer heiklen Phase. Die Bankenkrise in der EU ist weiterhin nicht gelöst, und der Großteil der äußeren EU-Länder von Portugal über Italien bis Griechenland steckt in einer Rezession. Die einzige Alternative zu Handelskrieg, Finanzkrieg mit den USA und Schlimmerem besteht darin, einen neuen Wirtschaftsraum aufzubauen und EU-Produkten neue Märkte in ganz Eurasien zu erschließen.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Kopp Exklusiv.
Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit mit einem Abo, falls Ihnen dieser Beitrag gefallen hat.