F. William Engdahl
US-Staatssekretär enthüllt Gründe für Kampagnen gegen Russland
Wer glaubt schon noch an die gängigen Politmärchen? Zum Beispiel daran, Russland habe sich in die US-Wahlen eingemischt? Oder Moskau sei schuld an den blamablen, unter falscher Flagge inszenierten Giftanschlägen auf die Skripals? Nein, die wahren Gründe, weshalb die USA und Großbritannien mit Kampagnen und Sanktionen gegen Russland zu Felde ziehen, sind ganz woanders zu suchen.
Enthüllt wurden sie unlängst vom stellvertretenden US-Staatssekretär für Europa und Eurasien, Wess Mitchell, als er vor dem Senat aussagte. Mitchell äußerte sich vor dem auswärtigen Ausschuss außerordentlich ehrlich, was die wahre geopolitische Strategie der USA gegenüber Russland anbelangt. Offenbar war er aus Sicht des US-Außenministeriums zu ehrlich, denn die Version, die auf der Website der Behörde erschien, wurde rasch abgeschwächt.
Zu Beginn seiner Rede vor dem Senatsausschuss erklärte Mitchell:
»Ausgangspunkt der Strategie zur Nationalen Sicherheit ist die Erkenntnis, dass die USA in eine Phase des Wettbewerbs zwischen Großmächten eingetreten sind und dass frühere politische Maßnahmen der USA weder das Ausmaß dieses neuen Trends ausreichend berücksichtigten noch unsere Nation darauf vorbereiteten, aus diesem Wettstreit siegreich hervorzugehen.«
Anschließend folgte dieses außerordentliche Eingeständnis:
»Im Gegensatz zu den hoffnungsvollen Erwartungen der Vorgängerregierungen haben sich Russland und China in ernsthafte Konkurrenten verwandelt, welche die materiellen und ideologischen Grundlagen errichten, die sie benötigen, um die Vormachtstellung und die Führungsrolle der USA im 21. Jahrhundert infrage zu stellen. Es zählt mit Blick auf die nationale Sicherheit weiterhin zu den wichtigsten Interessen der Vereinigten Staaten zu verhindern, dass die eurasische Landmasse von feindseligen Mächten dominiert wird. Das zentrale Ziel der Außenpolitik dieser Regierung ist es, unsere Nation darauf vorzubereiten, sich dieser Herausforderung zu stellen. Erreicht wird dies durch eine systematische Stärkung der militärischen, wirtschaftlichen und politischen Grundlagen amerikanischer Macht.«
Mitchells Rede zensiert
In der vom Außenministerium zensierten Version fehlt mysteriöserweise die oben in kursiv gedruckte Passage. Da es sich um eine förmliche Aussage vor dem Senat handelte, blieb der Senat bei seinem Originaltext (zumindest war dies bis zum 7. September 2018 der Fall). Das Außenministerium hat daher einen enormen Bock geschossen.
Sehen wir uns einen Moment lang die Bedeutung von Wess Mitchells Worten an, so wird eines rasch deutlich: Die groben Formulierungen sind völlig illegal, was die Charta der Vereinten Nationen anbelangt, auch wenn Washington heutzutage dieses feierliche Dokument vergessen zu haben scheint. Mitchell erklärte, die Priorität der nationalen Sicherheitspolitik liege darauf, zu verhindern, »dass die eurasische Landmasse von feindseligen Mächten dominiert wird«. Natürlich meint er damit Mächte, die sich gegen die Bemühungen von Washington und der NATO stemmen, ihrerseits Eurasien zu dominieren – Bemühungen, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Gange sind.
Wenn die USA ihren Einfluss in Eurasien stark ausbauen, bedeutet das auch, dass sie die Konkurrenten Russland, China und deren Nachbarstaaten kontrollieren. Eurasien ist Amerikas Nutzland. Was Wess Mitchell da im Senat verkündete, ist eine Art perverse globale Neuauflage der Monroe-Doktrin aus dem 19. Jahrhundert: »Eurasien gehört uns, und wenn ›feindselige Mächte‹ wie China und Russland es wagen, in ihrem eigenen souveränen Raum aufzumucken, dann macht sie das de facto zu ›Feinden‹.«
Und was ist mit der Formulierung »die materiellen und ideologischen Grundlagen« gemeint? Was soll dies bedeuten und in welcher Weise rechtfertigt das Washingtons Vorbereitungen, militärisch darauf zu antworten? Obwohl der Westen es wiederholt mit Wirtschaftskrieg versucht hat, arbeiten Russland und China energisch daran, eine wirtschaftliche Infrastruktur zu errichten, die außerhalb der Kontrolle der NATO liegt. Das ist verständlich, auch wenn Mitchell einräumt, dass es für Washington einem Kriegsgrund gleichkommt. Durch eine einzige unbedacht dahergesagte Äußerung ist dem stellvertretenden Staatssekretär für Europa und Eurasien ein massiver Patzer unterlaufen.
Um zu verstehen, wie groß der Schnitzer war und warum das Außenministerium rasch versuchte, Mitchells Worte wieder aus der Welt zu schaffen, ist ein kurzer Ausflug in die Grundlagen der angloamerikanischen Geopolitik hilfreich. Dabei müssen wir über den britischen Geografen Sir Halford Mackinder und dessen Weltsicht sprechen. Mackinder, der Pate der Geopolitik, präsentierte 1904 in einer Rede vor der Royal Geographic Society in London eines der einflussreichsten Dokumente in der globalen Außenpolitik seit der Schlacht von Waterloo vor 200 Jahren. Seine kurze Rede trug den Titel »The Geographical Pivot of History«.
Seemächte vs. Landmächte
Mackinder unterteilte die Welt in zwei zentrale geografische Mächte: Seemächte und Landmächte. Auf der einen Seite standen die Seemächte Großbritannien, USA, Kanada, Südafrika, Australien und Japan, welche die Weltmeere und die Handelsströme kontrollierten. Dieser Ring an dominanten Seemächten war immun gegenüber Bedrohungen von den Landmächten Eurasiens. Sollte Russland »über die marginalen Staaten Eurasiens hinweg expandieren«, würde das »ungeheure kontinentale Ressourcen zum Flottenbau gestatten«. Mackinder weiter: »Das Weltimperium wäre damit in Sicht.« Dies könne auch geschehen, sollte sich Deutschland mit Russland zusammentun.
Folgen des Eisenbahnausbaus
Mackinder verwies auf die gewaltigen geopolitischen Auswirkungen der damals noch jungen Transsibirischen Eisenbahn, die von Moskau über 9 000 Kilometer bis zur pazifischen Hafenstadt Wladiwostok verläuft. Er warnte sein britisches Publikum: »Das Jahrhundert wird nicht alt sein, bevor ganz Eurasien mit Eisenbahnen bedeckt sein wird.« Das werde ein gewaltiges Landgebiet erschaffen, zu dem die Flotten Großbritanniens – und später Amerikas – keinen Zugriff haben würden.
Seit Mackinder 1904 in London seine prophetische Rede hielt, erlebte die Menschheit zwei Weltkriege, die vor allem darauf abzielten, die deutsche Nation und ihre Bedrohung für die angloamerikanische Dominanz zu brechen. Washington inszenierte im Februar 2014 einen Staatsstreich in der Ukraine. Dieser erfolgte in der ausdrücklichen Absicht, einen blutigen und tiefen Keil zwischen Russland und Deutschland zu treiben.
Die Ukraine war damals die wichtigste Energieverbindung, über welche die deutsche Wirtschaft mit russischem Gas versorgt wurde. Dass deutsche Exportgüter – alles von Drehbänken über Pkws bis hin zu Hochgeschwindigkeitszügen – die rasche Erholung der russischen Volkswirtschaft vorantrieben, veränderte das geopolitische Gleichgewicht zugunsten eines Eurasien, bei dem Deutschland und Russland im Mittelpunkt standen – zum Nachteil Washingtons.
Verzweifelte Maßnahmen
Mittlerweile versucht Washington mit mehr als nur geringer Verzweiflung, den Geist, den man 2014 mit dem unbeholfenen Umsturz in Ukraine aus der Flasche entweichen ließ, wieder in die Flasche zu bekommen. Der Umsturz zwang Russland, seine potenziellen strategischen Bündnisse in Eurasien ernster zu nehmen. Er fungierte als Katalysator für die derzeit enge Zusammenarbeit von Russland und China und bewegte Moskau dazu, im Rahmen der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit auf wichtige eurasische Nachbarn zuzugehen. Jetzt hat Wess Mitchell eingeräumt, dass die Strategie der USA darauf abzielt, »zu verhindern, dass die eurasische Landmasse von feindseligen Mächten dominiert wird«.
Geopolitischer Wettstreit
Falls Russland und China je Zweifel daran gehabt haben sollten, wissen sie nun, dass es bei dem Krieg um einen grundlegenden geopolitischen Wettstreit geht in der Frage, wer Eurasien dominieren wird: die rechtmäßig dort lebende Bevölkerung, also in erster Linie Chinesen und Russen, oder die imperiale angloamerikanische Achse, die hinter beiden Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts steckte.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Kopp Exklusiv.
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