F. William Engdahl

Warum der Westen Angst hat vor »Made in China: 2025«

Im Handelskrieg, den die US-Regierung derzeit gegen China führt, hat sie vor allem einen Aspekt ausdrücklich im Visier – »Made in China: 2025« beziehungsweise »China 2025«, die Initiative, mit deren Hilfe Chinas Regierung die nationale Industrie fit für die Zukunft machen möchte.

Führende westliche Industrienationen, darunter auch Deutschland, sind natürlich alarmiert – allerdings sind sie dafür 10 Jahre zu spät dran. Bislang haben sie sich dummerweise geweigert, gemeinsame Sache mit China zu machen, wenn es um wichtige Entwicklungsprojekte wie die »Neue Seidenstraße«, die »One Belt, One Road«-Initiative, ging. Was aber genau bedeutet »China 2025« für die industrielle Vormachtstellung des Westens, vor allem für die Europäer und Amerikaner?

Bei seinem Amtsantritt 2013 schlug Chinas Präsident Xi Jinping die »One Belt, One Road«-Initiative vor, wie sie inzwischen heißt. Dahinter verbirgt sich ein gewaltiges Netzwerk neuer Infrastrukturprojekte, die sich von China ausgehend über ganz Asien bis hin zum Nahen Osten und zu den Ländern der Europäischen Union erstrecken. 2013 regte Xi die Initiative auf einem Treffen in Kasachstan an, 2015 kam noch eine umfassende Strategie für die Entwicklung der nationalen Industrie hinzu – »Made in China: 2025«.

Seit 2008 habe ich China zahlreiche Male besucht und dort immer wieder mit den Menschen diskutiert. Was mich dabei besonders beeindruckt hat, ist die erstaunliche Entschlossenheit chinesischer Institutionen und Personen, einen getroffenen Konsens zur nationalen Strategie auch in die Tat umzusetzen. Während das Land im Eiltempo versuchte, von einem armen Agrarstaat zum weltgrößten Industriestandort aufzusteigen, wurden natürlich Fehler begangen. Qualitätskontrollen beispielsweise haben oftmals nur eine nachrangige Rolle gespielt. Doch seit Deng Xiaoping 1979 den »Sozialismus chinesischer Prägung« verkündete, hat sich China Schritt für Schritt zur Drehbank der Welt gemausert. Bislang wurde dort vor allem für zahllose westliche Konzerne in Lizenz gefertigt, für Firmen wie VW, General Motors oder Apple.

»Verjüngung der chinesischen Produktion«

Das ändert sich. China »verjüngt seine Produktion«, so wie es 1871 das Deutsche Reich getan hat, 1952 Japan, später Südkorea. China will nicht länger nur ein Produktionsstandort sein, an dem hergestellt wird, was ausländische Konzerne vorgeben – China will vielmehr seine eigenen Apple- Rechner entwickeln, seine eigenen BMWs, seine eigenen Smartphones. Die nationale Industrie und die betreffenden Regierungseinrichtungen durchlaufen einen Wandel – von »Hergestellt in China« zu »Entwickelt in China«, von chinesischer Schnelligkeit zu chinesischer Qualität, von chinesischen Produkten zu chinesischen Marken.

»Industrie 4.0«, das von einigen als »vierte industrielle Revolution« bezeichnete deutsche Zukunftsprojekt, diente den Chinesen als grobes Vorbild für »China 2025«. Bei »China 2025« sollen technische Fortschritte in Schlüsseltechnologien wie künstliche Intelligenz, das Internet der Dinge, maschinelles Lernen, Cloud-System, Cybersicherheit und adaptive Robotik dazu genutzt werden, Produktionsabläufe von Unternehmen radikal zu verändern.

China hat derartigen Konzepten Priorität für die künftige wirtschaftliche Entwicklung eingeräumt. Das ist keine Kleinigkeit, und genau deshalb zielen Trumps Berater mit ihren Maßnahmen im Handelskrieg exakt auf die wichtigsten Schwachstellen und Verbindungen zu westlicher Technologie ab. Die chinesischen Telekomriesen Huawei oder ZTE Telecommunications beispielsweise sind noch abhängig von amerikanischen Prozessoren und anderer Technologie.

»Post-industrielle« USA

In den 1970er-Jahren begannen große, international agierende US-Konzerne, ihre Produktion ins Ausland zu verlegen, an Standorte, wo die Gesamtkosten dank niedrigerer Löhne geringer waren. Amerikanische Denkfabriken und Medien priesen die unsinnige Idee, der Westen sei in eine »post-industrielle Ära« eingetreten, eine Art Nirwana, in dem es keine »schmutzigen« Industriejobs im Stahlbau, der Fahrzeugfertigung und so weiter mehr gibt, sondern vielmehr eine Dienstleistungsindustrie. Tatsächlich war es die massive Auslagerung des Produktionsstandorts Amerika.

Als China in den 1990er-Jahren anfing, mit dem Westen über eine Aufnahme in die Welthandelsorganisation WTO zu verhandeln, setzte ein wahrer Ansturm auf China ein. Amerikas Wirtschaft und Amerikas Banken machten sich in Scharen auf den Weg in das Land, das nicht nur das bevölkerungsreichste der Welt ist, sondern auch noch mit die günstigsten Löhne weit und breit zahlte. Mehr als 3 Jahrzehnte lang haben amerikanische Unternehmen wie GE, Nike und Apple dank der Fertigung in China gewaltige Gewinne eingefahren – ein Umstand, den Washington in der aktuellen Diskussion lieber ignoriert.

Mit diesem Input aus dem Ausland hat sich China zum absoluten Industrieriesen entwickelt. Allerdings muss sich dieser Riese dringend und umfassend wandeln, wenn China ein »globaler Kompetitor« werden will und nicht nur der Ort, an dem die Konzerne aus dem Westen und Japan die Schraubendreher schwingen lassen. Im offiziellen Vorwort zu »China 2025« heißt es: »Chinas verarbeitende Industrie steht vor neuen Herausforderungen. Bei Ressourcen und Umweltaspekten nehmen die Einschränkungen zu, die Kosten für Arbeit und Herstellung steigen, das Wachstum von Investitionen und Exporten verlangsamt sich. Ein ressourcenintensives Wachstumsmodell, das vor allem von Expansion getrieben wird, kann in diesem Umfeld nicht nachhaltig sein. Wir müssen unverzüglich die Entwicklungsstruktur anpassen und die Qualität der Entwicklung verbessern. Die Fertigung ist der Motor, der die neue chinesische Wirtschaft antreiben wird.«

Ohne Industrie kein Wohlstand

In dem Papier heißt es ganz richtig: »Der Aufstieg und Fall der Weltmächte seit Beginn der industriellen Zivilisation Mitte des 18. Jahrhunderts hat wiederholt gezeigt, dass es ohne eine starke verarbeitende Industrie keinen nationalen Wohlstand gibt.« Die Schlussfolgerung lautet denn auch: »China kann nur dann stärker werden, die Sicherheit des Staates schützen und eine Weltmacht werden, wenn es eine international konkurrenzfähige Fertigung aufbaut.«

Die Blaupause des chinesischen Staatsrats verweist zu Recht darauf, dass sich nach der Finanzkrise die weltweite Produktion umfassend verändert hat und die Großkonzerne des Westens die Fertigung revolutionieren. Exakt darum geht es in »China 2025«; im offiziellen Dokument dazu heißt es, es gehe darum, »in diesem neuen Wettbewerbsumfeld die Oberhand in der Fertigung zu gewinnen«. Solche Töne wird man weder in Washington noch in Berlin mit Begeisterung aufnehmen.

Offene Bestandsaufnahme

Die Chinesen sind ganz offen, was ihre derzeitigen Fähigkeiten in der Fertigung anbelangt: »Chinas Fertigung ist groß, aber noch nicht stark. Die Fähigkeit, unabhängig zu innovieren, ist schwach, die Abhängigkeit bei Schlüsseltechnologien und modernem Gerät groß. Unternehmensseitige Systeme zur Innovation der Fertigung müssen noch perfektioniert werden. Die Produktqualität ist nicht hoch und China verfügt nur über wenige Marken von Weltrang. Die Ressourcen- und Energieeffizienz ist weiterhin schlecht, während Umweltverschmutzung ein ernstes Problem darstellt. Die Industriestruktur und die Branchendienstleistungen bleiben unausgereift.«

So beschreibt Peking die Herausforderungen, vor denen man aktuell steht. China hat nicht die Absicht, ewig als quasi-koloniales Montagewerk für ausländische Unternehmen zu fungieren. Die Chinesen bauen sich jetzt vielmehr ihr eigenes Montagewerk, um auf Weltklasseniveau konkurrieren zu können. Das lässt im Westen schon seit einiger Zeit die Alarmglocken klingeln.

Die drei Schritte

»China 2025« gibt drei klare Schritte vor. Bis 2025, 10 Jahre nach Beginn des Vorhabens, will China eine »wichtige Rolle in der Fertigung« spielen. Die Fertigungskapazitäten sind konsolidiert, die Digitalisierung schreitet voran, zentrale Technologien werden beherrscht und in Bereichen wie Hochgeschwindigkeitszüge ist China wettbewerbsfähig oder sogar schon weltweit führend. Parallel dazu wird die Produktionsqualität verbessert. Was die Energieeffizienz und Umweltverschmutzung angeht, ist man auf Augenhöhe zu den Industrienationen.

Schritt zwei sieht vor, dass Chinas Produktionsfähigkeiten bis 2035 ein Niveau »zwischen den weltweit führenden Produktionsländern« erreicht. Die Innovationsfähigkeiten sind stark verbessert, sodass große Durchbrüche erzielt werden und »die Wettbewerbsfähigkeit insgesamt beträchtlich gesteigert« wird.

Den dritten Schritt will das Reich der Mitte dann 2049 zum 100-Jahr-Jubiläum der Volksrepublik China erreicht haben. Bis dahin will China »die Führungsrolle unter den Produktionsländern der Welt eingenommen haben. Wir werden die Fähigkeit haben, Innovationsführer zu sein und über Wettbewerbsvorteile in zentralen Produktionsbereichen verfügen. Wir werden modernste Technologie und Industriesysteme entwickeln«.

Netzwerk von Behörden

Das 38-seitige Dokument skizziert ein Netzwerk an begleitenden Behörden und Finanzierungsstellen, das dafür sorgen soll, dieses höchste Priorität genießende Projekt zu realisieren. Seit über 4 Jahrzehnten haben Chinas Eliten ihre Söhne und Töchter an den besten ingenieurswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Hochschulen in den USA und Europa studieren lassen. Jetzt kehren die bestens ausgebildeten Fachkräfte nach China zurück und stellen sich den Herausforderungen – und der umfassende Umbau der chinesischen Wirtschaft ist eine Herausforderung, wie sie sich in dieser Größenordnung in den USA oder der EU nicht finden lässt.

Der Staat schafft die Grundlagen für die Realisierung von »China 2025«. Dazu zählt unter anderem, im Rahmen des nationalen Wissenschafts- und Technologieplans die Forschung zu fördern und »Innovationskoalitionen« zwischen Staat, Produktion, Bildungswesen, Forschung und operativem Bereich zu schaffen. An Zentren für Industrieforschung soll in Bereichen wie »IT der nächsten Generation, intelligente Fertigung, generative Fertigungsverfahren, neue Verbundstoffe und Biomedizin« geforscht und gelehrt werden.

Bis 2020 sollen fünfzehn dieser »Industrial Technology Research Bases« entstehen, bis 2025 sind vierzig geplant. Diese Zentren sollen wichtige Bausteine für die industrielle Umwandlung entwickeln, beispielsweise »hochwertige, digital gesteuerte Werkzeugmaschinen, Industrieroboter und Geräte für generative Fertigungsverfahren, die über Tiefenwahrnehmung, intelligente Entscheidungsprozesse und Automatisierung verfügen«. »Bis 2025 werden die wichtigen Fertigungsbereiche komplett digitalisiert sein«, heißt es in der Planbeschreibung. »Die Betriebskosten für Pilotprojekte werden um 50 Prozent sinken, die Produktionszyklen werden 50 Prozent kürzer und die Raten fehlerhafter Produkte werden um 50 Prozent sinken.«

Und die gesamte Umwandlung ist an die Umsetzung von Chinas ehrgeiziger »One Belt, One Road«-Initiative gebunden. Wie Washingtons geopolitische Strategie aussieht, hat der inzwischen verstorbene Zbigniew Brzeziński eingeräumt, als die USA noch als einzige Supermacht dastanden: Der Aufstieg wirtschaftlicher Konkurrenten aus Eurasien müsse verhindert werden. »Es ist erforderlich, dass kein eurasischer Herausforderer auftaucht, der imstande ist, Eurasien zu dominieren und dadurch auch Amerika herauszufordern.«

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Kopp Exklusiv.
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